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Mai 19, 2020 | Themen

Inklusion am Arbeitsmarkt – Wertachtal-Werkstätten erweitern standortübergreifend ihr Angebot

Liegeboxen einstreuen und den Stall sauber machen, das sind die ersten Aufgaben, die Georg Haug in der Früh erledigt. Routinearbeiten für jeden Landwirt, und auch Haug – selbst aus einem landwirtschaftlichen Betrieb – kennt die Tätigkeiten von klein auf. Seit über einem Jahr arbeitet der 45-jährige auf dem Biobauernhof der Familie Leonhart in Irsee. Georg Haug ist einer von zwölf Mitarbeitern mit Behinderung der Wertachtal-Werkstätten, die derzeit einen sogenannten Außenarbeitsplatz wahrnehmen. Bis letztes Jahr war Haug in der Schreinerei der Werkstätten in Kaufbeuren tätig, nun arbeitet er montags bis donnerstags als landwirtschaftlicher Helfer. Georg Haug kennt die Familie Leonhart schon jahrelang. „Das hilft natürlich sehr und hat uns davon überzeugt, es einmal mit einem Praktikum zu versuchen“, beschreibt Bäuerin Karin Leonhart die Zusammenarbeit. Natürlich musste man sich erst aneinander gewöhnen und herantasten. So benötige Georg Haug zum Beispiel deutlich mehr Zeit für manche Aufgaben als andere Helfer. „Doch dann wissen wir, dass der Stall auch absolut sauber ist.“ Mit derselben Gründlichkeit schaut Haug auch, dass es um die Gebäude herum ordentlich ist und fungiert als inoffizieller Hausmeister. Nachdem das Praktikum zum Kennenlernen gut geklappt hatte, wurde Georg Haugs Vertrag um ein Jahr verlängert. Geht es nach Karin Leonhart, sollten mehr Betriebe Menschen mit Behinderung eine reale Chance geben. „Die vielfältigen Fördermöglichkeiten solcher inklusiven Angebote sind sehr gut, aber wohl zu wenig bekannt.“ Sie und ihre Familie schätzen vor allem den engen Austausch mit den Wertachtal-Werkstätten, die Georg Haug und die Familie weiterhin begleiten.

Für über 600 Menschen mit geistiger, seelischer oder psychischer Behinderung bieten die Wertachtal-Werkstätten unterschiedliche Arbeitsangebote an. „Für viele ist das auch genau der richtige Rahmen. Und gleichzeitig setzen wir uns aber dafür ein, dass Menschen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe arbeiten“, erläutert Gerhard Schmid, Inklusionsbeauftragter der Werkstätten, das Prinzip eines Außenarbeitsplatzes. Nötig hierfür sind Kooperationspartner, die soziale Verantwortung übernehmen und Menschen mit Behinderung eine ehrliche Chance geben. Laut Schmid sind Angebote in jeder Branche und in mit jeder Unternehmensgröße denkbar, über viele Jahre haben sich die Werkstätten hier bereits ein Netzwerk in der Region aufgebaut. Ziel sollte immer die berufliche Eingliederung sein, nicht die Deckung eines kurzfristigen Bedarfs oder die Bereitstellung einer günstigen Arbeitskraft. Betriebe und Menschen mit Behinderung lernen sich zunächst bei einem Praktikum kennen, das in der Regel bis zu acht Wochen dauert. Von Anfang an steht beiden Seiten der Inklusionsbegleiter zur Seite, der in allen relevanten Arbeitsplatzfragen und bei der Einarbeitung unterstützt. Wenn der Bewerber zum Unternehmen passt, kann aus dem Praktikum ein Außenarbeitsplatz werden.

„Wir unterstützen, solange und so intensiv wir als Werkstätten gebraucht werden. Ob es dann langfristig bei einem Außenarbeitsplatz bleibt oder zu einem regulären Arbeitsverhältnis wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Wahlmöglichkeit für den Beschäftigten ist das Entscheidende,“ beschreibt Ralf Grath, einer der drei Geschäftsführer der Lebenshilfe Ostallgäu e.V. mit Wertachtal-Werkstätten, die Intention hinter dem Konzept von Inklusion am Arbeitsmarkt. Ausgehend vom Willen des Mitarbeiters mit Behinderung sollen wohnortnahe, maßgeschneiderte Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in der Region geschaffen werden. „Als Wertachtal-Werkstätten sind wir nicht nur Anbieter für geschützte Arbeitsplätze in unseren Standorten. Wenn sich einer unserer Mitarbeiter mit Behinderung nach draußen orientieren möchte, unterstützen wir ihn selbstverständlich auch auf diesem Weg.“ Dafür bauen die Wertachtal-Werkstätten auf ein Netzwerk an Partnerbetrieben, die individuell betriebliche Arbeitsplätze im Lebensraum und in der Region des einzelnen Menschen mit Behinderung anbieten. Die Vision dahinter ist klar: Menschen mit Behinderung sollen wählen können, ob sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten wollen oder in Betrieben in der Region – also dort, wo andere auch arbeiten.

Mit Gerhard Schmid, seit Anfang des Jahres erster Inklusionsbeauftragter bei den Wertachtal-Werkstätten, wurde der erste Schritt gemacht. „Doch Bedarfe und Nachfrage sind enorm“, so Geschäftsführer Ralf Grath. Und gleichzeitig gäbe es Schnittstellen, die derzeit nicht zufriedenstellend gelöst werden. Zum Beispiel der Übergang Schule zu Beruf oder die Unterstützung von Menschen mit Behinderung im Bereich der Arbeitsplatzwahl, die nicht in den Wertachtal-Werkstätten tätig sind. Daher wurde parallel durch die Lebenshilfe Ostallgäu e.V., Träger der Wertachtal-Werkstätten, das Projekt „Betriebliche Inklusion“ initiiert. Gefördert durch die Aktion Mensch hat dieses ausschließlich zum Ziel, Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.

Die Wertachtal-Werkstätten sind eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der Lebenshilfe Ostallgäu, einer Hilfseinrichtung für geistig, körperlich, seelisch behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. 700 Mitarbeiter arbeiten bei der Lebenshilfe Ostallgäu, 200 davon bei den Werkstätten. Über 600 Menschen mit Behinderung arbeiten in den Werk- und Förderstätten an den Standorten Kaufbeuren, Neugablonz, Marktoberdorf und Füssen. Als Ansprechpartner für den Bereich Betriebliche Inklusion steht Gerhard Schmid interessierten Unternehmen für Rückfragen zur Verfügung, Tel. 08341 9007-170, Mobil 0176 19007013, [email protected].

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