Das war der „Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung 2022” in Füssen

Die Ernüchterung war spürbar, als feststand: Gewitter ziehen auf. Es wird nass am 5. Mai und wir müssen unser Event zum “Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“ verschieben.
Eine Woche später zeigt sich der Frühling von seiner schönsten Seite. Einem durch und durch sonnigem Event steht nichts im Wege. Unter dem Motto „Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel!“ ist das Ziel des Tages Barrieren abzubauen: Im Kopf, im Berufs- und öffentlichen Leben und auf Missstände aufmerksam zu machen.
Auf der Bühne
Mit strahlenden Gesichtern eröffnen Work Sound Maschine den Protesttag. Trotz weniger Proben heizt die Band den Besuchern gut ein und liefert das erste Beispiel an diesem Tag, wie gelebte Inklusion aussieht. Die achtköpfige Band harmoniert total und jede*r beherrscht das eigene Instrument super!
Im Anschluss richten sich Dagmar Rothemund, Leitung der Wertachtal-Werkstätten in Marktoberdorf und Füssen, mit Maximilian Eichstetter, Bürgermeister der Stadt Füssen, an die Besucher*innen. Der Dank geht an die Unterstützer*innen des Tages, ohne die ein so buntes Event nicht möglich wäre. Eichstetter erklärt, es sei schon viel passiert in Füssen, um die Barrierefreiheit zu verbessern, aber vieles sei noch nötig. Oft sei es die Bürokratie, die Prozesse in die Länge zieht, so dass das kurzfristige Erreichen von Zielen schwierig ist.
Wie es um die Barrierefreiheit in Füssen steht, fanden die Klient*innen der Förderstätte, zusammen mit den Schüler*innen des P-Seminars vom Gymnasium Hohenschwangau, im Vorfeld heraus. Nach einem gemeinsamen Frühstück und Führung durch die Werkstatt, ging es, ausgestattet mit dem von Aktion Mensch zur Verfügung gestellten Material, in die Füssener Altstadt. Dort wurden Barrieren entdeckt und mit Stickern, Absperrband und Kreide gekennzeichnet. Die Orthopädie Manufaktur Schad und Lorenz lieh für die Protestaktion Rollstühle aus, um den Schüler*innen einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen. Um Einschränkungen nachvollziehen zu können, sollte man sie selbst erlebt haben.
Unser Fazit: Vieles hat sich entwickelt, vieles ist noch zu tun! Dort, wo bauliche Strukturen versagen, hilft Menschlichkeit über einige Barrieren hinweg! Doch diese sind vielseitig. Barrierefreiheit bedeutet mehr als Rampen und Aufzüge. Wir waren positiv überrascht von der Aufgeschlossenheit und dem Interesse der Passant*innen. „Jede*r kann sich für eine barrierefreie Gesellschaft einsetzten! Inklusion beginnt bei jedem einzelnen von uns“, berichtet Sandra Kobus, Projektkoordinatorin der Inklusiven Küche.
Im Rahmen der Podiumsdiskussion wird gezeigt, wie gelebte und gelungene Inklusion auf dem Arbeitsmarkt aussehen kann. Rothemund interviewt verschiedene Paare, die berichten, wie es funktionieren kann, dass Menschen mit Beeinträchtigung auf dem ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
Andrea Helmer, Geschäftsführerin vom Weltladen Füssen, zählt zwei Beschäftigte der Wertachtal-Werkstätten zu ihrem Team aus Ehrenamtlichen, die einmal in der Woche im Laden arbeiten. Sedef Ergin freut sich über die abwechslungsreichen Tätigkeiten und die Eigenständigkeit, die man ihr zutraut. „Bei uns klappt die Integration zu 100 Prozent und ich habe bei beiden Kolleginnen eine enorme Steigerung erlebt“, sagte Helmer. Auch zu externen Terminen begleiteten die beiden Mitarbeiterinnen Helmer schon und sind ganz selbstverständlich vollwertiger Teil des Teams.
Peter Speer arbeitet bei PMG und unterstützt dort eine Kollegin in der Verpackung. „Herr Speer wird von den Kollegen anerkannt“, erzählte Peter Lehmann, Personalleiter bei PMG. „Man muss den Mut haben, etwas auszuprobieren.“ Als Arbeitgeber müsse man bereit sein, Flexibilität zu bieten und den Arbeitsplatz an die Person anzupassen, so Lehmann im Vorfeld.
„In sozialen Einrichtungen sind Menschen, die nicht ganz so fit sind, gut aufgehoben. Die Mitarbeiter im Krankenhaus haben einfach mehr Geduld und sind tolerant“, sagte Oliver Geischberg. Für Klinikleiter Martin Wiedemann ist es besonders positiv, mitzuerleben, welche Entwicklung Oliver Geischberg gemacht hat. „Ich habe ihn als jungen, unsicheren Mann kennengelernt. Heute geht er mit erhobenem Kopf durch die Stadt und übernimmt eigene Projekte.“
Die Beispiele gelungener Inklusion sollen andere Unternehmen und Firmen motivieren ebenfalls Kooperationen einzugehen und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Häufig wird zuerst über Schwächen und Nachteile nachgedacht, statt die Stärken und Ressourcen einer Person zu sehen und die damit einhergehenden Vorteile.
Uwe Zimmermann vom Projekt Kompass – Betriebliche Inklusion, führte am Nachmittag einige Gespräche mit Interessent*innen und konnte bestehende Zweifel und Barrieren im Kopf ausräumen. Wir freuen uns auf neue Kooperationen.
Stille Demonstration
Etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland lebt mit einer Behinderung. Damit bildet die Personengruppe, die wohl größte Minderheit in Deutschland. Und trotzdem wird sie häufig nicht mitbedacht. An Barrierefreiheit mangelt es oft und Toleranz ist noch lange keine Selbstverständlichkeit. So stoßen Menschen mit Beeinträchtigung in ihrem Lebensalltag auf viele Grenzen, die ihnen das Leben erschweren. Um ihren Protest kundzutun und über Missstände und negative Erfahrungen aufzuklären, haben Menschen mit Beeinträchtigung und ihre Angehörigen ihre Wünsche und Forderungen an Gesellschaft, Mitmenschen und Politik auf Plakate geschrieben. Rund um den Skatepark waren diese als stille Demonstration angebracht und für alle Besucher*innen zu lesen: „Mehr Aufklärung in der Gesellschaft“, „Akzeptanz, Respekt und Anerkennung für Menschen mit Behinderung!“, „Stell dir vor Du weinst und alle schauen weg!“, „Teilhabe muss in allen Lebensbereichen möglich sein!“, „Begegne mir mit Respekt, ich war mal in deiner Lage“. Neben baulichen Maßnahmen, wie mehr barrierefreien Toiletten, wurde sehr oft das fehlende Angebot von Freizeitaktivitäten für Menschen mit Beeinträchtigung kritisiert, sowie mangelnde Arbeitsangebote.
Special Olympics
Wie Teilhabe für jeden funktioniert, zeigten die Schüler*innen des P-Seminars vom Gymnasium Hohenschwangau. Bei ihrer Mitmach-Aktion unter dem Motto „Special Olympics“. An verschiedenen Stationen wurde geworfen, gekegelt und im Team gearbeitet. Egal, ob Kind oder Erwachsener, sportlich fit oder eher nicht, mit Beeinträchtigung, gehend oder im Rollstuhl – alle kamen stolz lächelnd vom Sportplatz. Besonders groß war die Freude bei denen, die am Abend bei der Preisverlosung gezogen wurden. Besten Dank an dieser Stelle an alle Sponsoren!
Motivierende Worte fand Felix Brunner. Er berichtete über seinen Weg, nachdem er durch einen Sportunfall sein Leben neu ausrichten musste. Der Rollstuhl-Sportler inspiriert durch seine Willensstärke und seinen Unternehmergeist. Er appellierte an die Besucher*innen die Chancen, die ihnen gegeben werden zu nutzen. Außerdem fordert er sofortiges Handeln: „Inklusion ist nicht verhandelbar!“
David Lebuser, erfolgreicher Rollstuhlskater und Gründer von Sit’n’Skate, wünschte sich zunächst von Bürgermeister Eichstetter: „Dieser Schotter geht gar nicht. Ich hoffe, dass das bei meinem nächsten Besuch besser ist, denn nur dann kann der Skateplatz glänzen.“ Denn der Zugang zum Skatepark ist für Rollstühle, Rollatoren und Kinderwägen aufgrund des Kieses erschwert. Der Skatepark an sich bereitete dem Skater Freude. Er zeigte sein Können und rollte kunstvoll und mit Speed über die Rampen. Besonders sein Durchhaltevermögen und Ehrgeiz beeindruckte. Rund 15 mal grindete er auf der Kante seines Rollstuhls – und fiel. Unermüdlich stand er immer wieder auf und probierte es erneut, bis er den Trick sauber fuhr und sicher landete! Starker Typ, der zeigt, dass Grenzen relativ sind. Besucher*innen konnten Skaterollstühle leihen, unter Davids Anleitung ausprobieren und so den Skatepark auf eine ganz neue Art erleben.
Auch die Orthopädie Manufaktur Schad & Lorenz war zusammen mit Partner Paravan mit einem Stand vertreten, an dem ausprobiert werden konnte, wie sich das fahren mit verschiedenen Rollstühlen anfühlt. Mitarbeiter Jürgen unterhielt sich mit vielen Besucher*innen und war begeistert von deren Interesse und Aufgeschlossenheit.
Fazit
Das Publikum heute war so vielseitig, wie unsere Gesellschaft es ist. Wir sahen viel Lachen in den Gesichtern, viele Gespräche zwischen Menschen, die auf den ersten Blick unterschiedlich erscheinen. Der Tag heute hat gezeigt, dass ein buntes Miteinander funktioniert und eine wahnsinnig positive Energie entsteht. Unserem Ziel, Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen abzubauen, sind wir heute wieder näher gekommen. Aufklärungsarbeit ist und bleibt wichtig, um unsere Alltagswelt nachhaltig inklusiv zu gestalten. Wir wünschen uns, dass alle Besucher, sowohl die Nachrichten des Protests, wie auch die positive Erfahrung des Miteinanders, mitnehmen und weitergeben.
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