Baustelle Inklusion

Autistische Künstlerin schafft Denkanstöße für mehr Bewusstsein und Akzeptanz
Eine großgewachsene Frau mit Bauhelm – so tritt Gee Vero auf die Bühne des Gablonzer Hauses. Als Gast der Lebenshilfe Ostallgäu und vor fast ausverkauftem Haus gibt sie an diesem Abend einen Einblick in ihren Alltag, der fasziniert und bewegt. Ihr 15-jähriger Sohn Elijah ist von frühkindlichem Autismus der schwersten Form betroffen: Im Alter von 19 Monaten hat er alle Fähigkeiten verloren, mit seinem Umfeld in Kontakt zu treten, ist inkontinent und benötigt eine spezielle Betreuung. Er ist Veros Motivation und der Ansporn für ihre deutschlandweiten Vorträge. Dabei im Rampenlicht zu stehen, fällt der Künstlerin und dreifachen Mutter nicht leicht. Vero selbst hat erst im Erwachsenenalter ihre eigene Diagnose erhalten: Asperger-Autismus, eine weitere Autismus-Form.
Humorvoll, schonungslos und offen lässt Vero die Zuhörer an ihren Erlebnissen teilhaben. Autismus ist neuronal bedingt und tritt in unterschiedlichsten Erscheinungen auf, von unauffällig bis hin zum Mutismus, indem Betroffene z. B. nicht Sprechen können. „Kennt man einen Autisten, kennt man eben nur einen – so wie bei jedem Menschen auch“, plädiert Vero dafür, die Ausprägungen von Autismus nicht zu vereinheitlichen, sondern als andere Arten der Wahrnehmung zu sehen. Sie selbst verstehe keine Ironie, keine Untertöne und ist sehr direkt, was das Publikum an diesem Abend positiv zu spüren bekommt. Ihre Töchter mussten ihr immer wieder erklären, wie sie sich auf Elternabenden verhalten soll, z. B. welchen Zweck Smalltalk hat. Sie selbst habe mittlerweile eine Vielzahl an Kompensationsstrategien entwickelt, die ihr im Alltag helfen. „Ich verstehe Smalltalk nicht, aber ich kann mittlerweile damit umgehen.“ Was aber einen großen Kraft- und Energieeinsatz erfordere und gleichzeitig die Toleranz des Umfelds voraussetze.
„Gleich und gleich gesellt sich eben gern“, argumentiert sie in Bezug auf die Akzeptanz von Autisten in der Gesellschaft. Unterschiede und Andersartigkeiten würden dabei kaum toleriert. „Inklusion ist für mich eine Baustelle. Und dort herrscht Helmpflicht“, erklärt sie den Zuhörern den Bauhelm auf ihrem Kopf. Dieser hilft ihr auch bei ihrer Körperwahrnehmung, ebenso ihre Armbänder oder ein Tape: Mit einer Bewegung ist sie sich wieder ihres Körpers bewusst. Bei Menschen ohne Autimus funktioniert das interne Filtersystem der Reize, so kommen nur fünf bis zehn Prozent der Eindrücke im Gehirn an. Dieses System, das zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ unterscheidet, existiert bei Autisten nicht. So nehmen manche Autisten einen Raum vollkommen neu war, wenn lediglich das Fenster geöffnet wird. Häufig beneidet Vero Menschen mit körperlichen Einschränkungen darum, dass deren Behinderung sichtbar ist. Heute sei die Diagnostik zum Glück verbreitet, gerade im frühkindlichen Bereich. Doch gebe es viele ältere Menschen, die ohne Diagnose ein Leben lang mit ihrem „Anderssein“ konfrontiert sind.
Vero schafft es, Denkanstöße zu platzieren – auch für Zuhörer, die keinen Bezug zu Autismus haben. „Wir müssen jeden Menschen dort abholen, wo er wartet und ihn so abholen, dass er mitgehen kann.“ Es sei untragbar, dass Inklusion nach über zehn Jahren Behindertenrechtskonvention noch nicht weiter ausgebaut ist. Mehr Aufklärung, mehr Begegnungen auf Augenhöhe seien hier entscheidend, ebenso die intensivere Sensibilisierung von Lehreren und Pädagogen. Sie fordert mehr Akzeptanz in der Gesellschaft für die Bedürfnisse der Autisten und deren Umfeld. Denn nur diese ebene den Weg für eine funktionierende Inklusion.
Als Brückenbauerin und beeindruckende Persönlichkeit hob Wolfgang Neumayer, 2. Vorsitzender der Lebenshilfe Ostallgäu die Referentin in seinen Abschiedsworten hervor. Die große Annahme dieser Veranstaltung und das gemischte Publikum von Betroffenen, Familienangehörigen, Fachkräften und Interessierten zeige, dass Autimus einen spürbaren Stellenwert in der Gesellschaft habe. Dennoch dürfe nicht Integration leichtfertig mit Inklusion gleichgestellt werden, was permanente Sensibilisierung für die Bedürfnisse der Betroffenen erfordere.
Weitere Artikel
Aus der Kategorie: